Interview: Gymnasium trotz Down-Syndrom?

Henri darf nicht aufs Gymnasium. Die Eltern des Elfjährigen mit Down-Syndrom wollten, dass er die weiterführende Schule am Heimatort Walldorf in Baden-Württemberg besucht. Im Gespräch mit katholisch.de plädiert Andreas Lob-Hüdepohl, Professor für theologische Ethik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin, für inklusive Schulen und zeigt auf, wo sich das bestehende System ändern muss.

Frage: Kann ein Kind mit Down-Syndrom aufs Gymnasium, wo es Gedichte interpretieren muss, wo Kurven diskutiert und chemische Gleichungen gelöst werden?

Lob-Hüdepohl: Nein und ja. Nein, wenn es darum gehen soll, dass ein Mensch mit sogenannter geistiger Beeinträchtigung an den gleichen Lernzielen gemessen wird wie alle übrigen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden. Hier wird man nur in den seltensten Fällen sagen können, dass Menschen mit Beeinträchtigungen, etwa mit Down-Syndrom, dieselben Lernziele verfolgen können wie andere Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums.

Aber das entscheidende ist: Ein Kind mit Down-Syndrom kann selbstverständlich dann auch auf ein Gymnasium gehen, wenn es im Unterricht nicht um Lernzielgleichheit geht, sondern auch um die Lernmaterie und die Lernatmosphäre. Das sind Aspekte, die in der öffentlichen Debatte bedauerlicherweise zu wenig gesehen werden: Die Frage nach der Entwicklung sozialer Kompetenzen bei allen Klassenkameraden. Unter diesem Aspekt kann sehr wohl ein gemeinsamer Unterricht im Interesse aller Beteiligten sein.

Frage: Dann ist das Ziel also nicht das erfolgreiche Ablegen der Abiturprüfung. Welche Ziele können Kinder mit Beeinträchtigung auf dem Gymnasium dann erreichen?

Lob-Hüdepohl: Die Debatte krankt daran, dass sie immer um formale Bildungsabschlüsse kreist. Es geht in der Schule aber nicht allein darum. Wenn der Abschluss als zentrales oder sogar einziges Kriterium genommen wird, dann wäre in der Tat die Beschulung in Regelschulen fragwürdig. Die Schule, auch das Gymnasium, ist aber ein Ort umfassenden Lernens, und zwar sowohl ein formeller wie ein informeller. Was über den Unterricht hinausgeht, Freizeitaktivitäten, soziale Kontakte: Das sind wichtige Lernbereiche für jeden Schüler. Und da ist das Gymnasium prinzipiell genauso gut geeignet für eine gemeinsame Beschulung von Menschen mit Behinderungen und ohne Behinderungen wie beispielsweise die Hauptschule oder die Realschule.

Frage: Sie sprechen das dreigliedrige Schulsystem an. Stellt der Anspruch von Inklusion von Menschen mit geistiger Behinderung nicht auch generell eine Anfrage an die Dreigliedrigkeit des Schulsystems?

Lob-Hüdepohl: Richtig. Wobei wir zunächst in Deutschland kein dreigliedriges Schulsystem haben, sondern ein viergliedriges. Und schon, dass alle Welt nur von Dreigliedrigkeit spricht, ist Teil des Problems. Das vierte Glied sind die Schulen mit sonderpädagogischem Förderbereich. Das Bemühen um eine inklusive Schule innerhalb dieses Systems stellt die Systemfrage, inwieweit eine Vielgliedrigkeit des Schulsystems überhaupt gewollt und sinnvoll ist.

Das Gymnasium und die Drei- oder Viergliedrigkeit wird hier angefragt, zumindest was das bisherige Verständnis und die bisherige Praxis dieser Drei- bzw. Viergliedrigkeit angeht. Die Alternative dazu ist nicht Gleichmacherei, das will niemand, sondern eine viel stärkere Form der inneren Differenzierung. Ich will ihnen dafür ein Beispiel geben. Auch das Gymnasium kennt längst die Integration oder besser noch die Inklusion von Menschen mit einer Lese-Rechtschreib-Schwäche. Diese Kinder werden selbstverständlich auch für das Gymnasium zugelassen, obwohl man genau weiß, dass sie in einem zentralen Bereich den Standards des Gymnasiums nicht gerecht werden können. Das tut ihrer geistigen Kompetenz aber keinen Abbruch. Man nimmt diese Schülerinnen und Schüler stellenweise aus der Bewertungsskala heraus, weil man weiß, dass sie in anderen zentralen Bereichen voll und ganz mithalten können. Man schafft eine innere Differenzierung, auch an Gymnasien. Das ist längst Praxis. Und dieses Prinzip der sogenannten inneren Differenzierung von Schulen, auch der inneren Differenzierung von Gymnasien, wäre durchaus verträglich mit dem Fortbestand eines gegliederten Schulsystems, so wie wir das in Deutschland kennen. Aber nochmals: Es bedarf einer grundlegenden Neukonzeption auch dieser Dreigliedrigkeit.

Frage: Sie sprechen vom Unterschied zwischen „Integration“ und „Inklusion“. In der UN-Behindertenrechtskonvention steht im englischen Text „inclusive education system“, im Deutschen wird das mit „integratives Bildungssystem“ übersetzt. Steht dahinter ein Übersetzungsfehler oder mangelnder politischer Wille?

Lob-Hüdepohl: Oh nein, das ist kein Übersetzungsfehler. Es hat über die angemessene Übersetzung eine lange Debatte gegeben, und letztendlich haben sich jene durchgesetzt, die den Begriff der Integration als einen, der in Deutschland gängig ist, zur Anwendung bringen wollten. Das ist heftig kritisiert worden, auch in der Fachdebatte. Diese Übersetzung führen viele Kritiker der inklusiven Schule an, die in Deutschland wegen der integrativen Schulen keinen Handlungsbedarf sehen.

Das Problem in Deutschland ist der sogenannte Integrationsvorbehalt. Schon jetzt können Schülerinnen und Schüler, mit welcher Beeinträchtigung auch immer, in die Regelschule. Der Integrationsvorbehalt legt aber fest, dass jedes Kind mit Beeinträchtigungen, das auf einer Regelschule beschult werden soll, bestimmte Grundstandards der Regelschule einhalten und in diesem Sinn in das bestehende System integriert werden muss. Dieses System selbst wird aber nicht verändert. Eine Inklusionsschule gemäß der Behindertenrechtskonvention darf diesen Integrationsvorbehalt nicht mehr kennen.

Frage: Wie würde sich eine Inklusionsschule von der in Deutschland üblichen Variante unterscheiden?

Lob-Hüdepohl: Es geht immer um die Möglichkeit, möglichst wohnortnah die Schule zu besuchen. Dabei geht es um ein inklusives Verständnis der Gesellschaft insgesamt. Für die allgemeine persönliche Entwicklung von Menschen ist es sehr schlecht, wenn sie separiert von ihrem üblichen Umfeld aufwachsen müssen. Selbst wenn eine Beschulung an Schulen mit sonderpädagogischem Förderbereich individuell besser wäre für die kognitive Entwicklung, gäbe es das Problem, dass die Förderschulen Kinder nicht in das normale lebensweltliche Milieu ihres Umfeldes einbinden.

Diese Kinder werden ganz früh morgens abgeholt, werden mit hohen Aufwendungen zu zentral gelegenen Förderschulen gebracht und spät nachmittags wieder zuhause abgesetzt. All das, was Schule auch ausmacht, nämlich Verabredungen mit Freunden und dergleichen, davon sind sie faktisch ausgeschlossen. Das ist einfach nicht vereinbar mit diesem System. Genau deshalb schreibt die Behindertenrechtskonvention fest, dass die Beschulung wohnortnah erfolgen muss. Das heißt: Prinzipiell muss es möglich sein, dass diese Kinder in der allgemeinen Lebenswelt mit anderen Kindern in der Nachbarschaft aufwachsen können. Das ist auch wichtig für die Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen in die Gesellschaft insgesamt. Wenn die ersten 15 Jahre des Lebens völlig isoliert ablaufen – wie soll dann Inklusion in der Arbeitswelt oder sonst in der „normalen“ Welt überhaupt gelingen?

Frage: Im konkreten Fall in Baden-Württemberg hätten sie also dafür plädiert, das betreffende Kind auch im Gymnasium zu inkludieren.

Lob-Hüdepohl: Nach dem, was ich weiß: Ja. Der baden-württembergische Fall ist aber etwas komplizierter. Es ist den Eltern ja die Möglichkeit angeboten worden, die Realschule oder ein entfernt liegendes Gymnasium zu besuchen. Es geht hier darum, dass das Kollegium am Gymnasium vor Ort sich geweigert hat, dieses Kind aufzunehmen. Hier muss man sehr differenziert hinschauen. Ich kann die vielen Lehrerinnen und Lehrer verstehen, die sehr zögerlich gegenüber der Aufnahme von Kindern und Jugendlichen sind, deren Lebensweise und deren besondere Förderbedarfe sie nicht kennen.

Das ist ein Problem, das wir ernst nehmen müssen. Die Forderung nach einer inklusiven Schule setzt voraus, dass es genügend Ressourcen gibt, und zwar nicht nur materielle, sondern auch Kompetenzen bei den Lehrern. Erreichen kann man das durch Fortbildung, aber auch durch die Inklusion von Sonderschullehrern, die in der Regel eine vorzügliche Expertise auf diesem Gebiet haben. Wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, kann ich sehr gut nachvollziehen, nicht unbedingt billigen, dass eine Schule sich zunächst weigert. Das scheint hier im konkreten Fall geschehen zu sein. Hier muss der Schulträger die notwendigen Kompetenzen und Ressourcen zur Verfügung stellen. Sonst wird Inklusion auf dem Rücken der unmittelbar Betroffenen, auf dem Rücken von Eltern, Lehrern und Kindern ausgetragen.

Das Gespräch führte Felix Neumann
Beitrag: http://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/gymnasium-trotz-down-syndrom