Kurz vor dem Ende seiner Amtszeit als Präsident der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt hat Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl die Bedeutung des Themas „Heterogenität“ für den Schulalltag dargestellt. (30. September 2011)
Heterogenität ist Realität“: Erster Eichstätter Lehrertag an Katholischer Universität über Bedarf und Bedürfnisse im Schulalltag
Wie kann man im Alltag Schülerinnen und Schülern gerecht werden, die unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen – sei es körperlich, geistig oder kulturell? Welche Grenzen setzt das bestehende Schulsystem, um auf individuelle Unterschiede und Bedürfnisse einzugehen?
Solchen Fragen ging der erste Eichstätter Lehrertag zum Oberthema „Heterogenität“ nach, mit dem die Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU) offenbar einen Nerv getroffen hatte: Gleich mehr als 200 Lehrerinnen und Lehrer aller Schularten kamen am Freitag zur Premiere aus ganz Bayern nach Eichstätt, um das Angebot einer wissenschaftlichen Weiterbildung zu nutzen. „Heterogenität ist ein Faktum, nicht nur im Schulalltag. Sie ist eine Bereicherung, die man nicht nur passiv wertschätzen soll, sondern auch kultivieren muss“, sagte der scheidende Universitätspräsident Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl. Gerade Schulen seien besondere Lernorte für eine kulturelle Arbeit an der eigenen Biographie.
Auf dem Podium diskutierten u.a. (v.l.) Bernhard Buchhorn (Direktor der Staatlichen Realschule Kösching), Prof. Dr. Wolfgang Schönig (Lehrstuhl für Schulpädagogik an der KU), Ute Multrus (Referentin für Werteerziehung und Kulturelle Bildung in der Grundsatzabteilung des Staatsinstituts für Schulentwicklung und Bildungsforschung), sowie der scheidende KU-Präsident Prof. Dr. Andreas Lob-Hüdepohl.
Die Vizepräsidentin für Studium und Lehre, Prof. Dr. Gabriele Gien, schilderte in ihrer Einführung zum Thema, dass das bestehende Schulsystem vom ersten Tag an auf eine fiktive Homogenität der Leistungen hin ausgerichtet sei und eine entsprechende Selektion stattfinde – was die Erfahrung des Versagens früh provoziere. „Dabei ist Deutschland heute gekennzeichnet durch eine ethnische, konfessionelle und kulturelle Vielfalt, die auch die Situation in den Klassenzimmern prägt“, so Gien. Die Zukunft und der Zusammenhalt von Gesellschaft und Demokratie hänge von gleichberechtigter Teilhabe ab. Mit Blick auf die Realität von Heterogenität sollte diese nicht als Differenz von einer unterstellten Norm, sondern als vorhandene Unterschiedlichkeit definiert werden im Sinne einer Wertschätzung von Vielfält. Für den Schulalltag bedeute dies, dass die Entwicklung von Wissen stärker als individueller Prozess begriffen werden müsse – mit Mut, sich auf einen nicht komplett planbaren Verlauf von Lern- und Lehrprozessen einzulassen. „Damit ändert sich auch die Rolle des Lehrers vom Lehrer hin zum Berater, Mediator und Motivator, was sich auch in der Ausbildung widerspiegeln muss“, sagte Gien. Es bedürfe für die Schulen eine hohes Maß an Gestaltungsspielräumen und Raum zur Reflexion sowie einen Dialog mit dem Kultusministerium hinsichtlich eines differenzierteren Ergebnisses von Lernprozessen der Schüler.
Die anschließende Podiumsdiskussion mit Vertretern aus Wissenschaft und Praxis sowie die Reaktionen aus dem Publikum zeigten, dass in den Schulen vor allem eines fehlt, um individuell auf die vorhandene Heterogenität einzugehen: Zeit. „Viele kleine Dinge sind schon im Alltag angekommen und wir haben den Anspruch, unsere Schüler zu fördern. Jedoch fehlen uns schlicht Ressourcen, Räume und Zeit zum Nachdenken. Es muss noch mehr investiert werden“, sagte der Direktor der Staatlichen Realschule Kösching, Bernhard Buchhorn. Die Referentin für Werteerziehung und Kulturelle Bildung in der Grundsatzabteilung des Staatsinstituts für Schulentwicklung und Bildungsforschung, Ute Multrus, verwies in diesem Zusammenhang auf bereits 100 bayernweit geschaffene Planstellen für den Bereich Inklusion (also speziell für die Betreuung von Schülern mit Behinderung in Regelschulen). „Wir sind hier auf dem Weg“, so Multrus. Heterogenität umfasse laut Multus jedoch darüber hinaus neben Fragen von Migration und Integration auch Genderfragen.
Dass Lehrerinnen und Lehrer im Alltag bereits versuchen, auf die individuellen Bedürfnisse einzugehen, bestätigten sowohl die Gaimerheimer Schülerin Sarah Mickel als auch Stephanie Kuppe, deren beiden hörbehinderten Söhne eine Regelschule besuchen. „Sie sollen so normal wie möglich aufwachsen, deshalb habe ich eine Regelschule einfach ausprobiert“, so Kuppe. Der Inhaber des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der KU, Prof. Dr. Wolfgang Schönig, sah das Schulsystem derzeit in einer spannungsreichen Situation: „Der Staat ändert seine Steuerungsphilosophie. Zwar wird den Schulen mehr Handlungsspielraum eingeräumt, jedoch geht der Staat gleichzeitig zur einer stärkeren, standardisierten Output-Orientierung über.“ Eine Professionalisierung der Lehrkräfte dürfe sich jedoch nicht durch eine Standardisierung, sondern durch mehr Beratungskompetenz und Zeit für die Kollegien ergeben. Hier plädierte Vizepräsidentin Gien für andere Formen der Benotung, die z.B. einen ganzen Lernprozess berücksichtigen.
Den Blick auf die Eltern beim Thema Heterogenität richtete Schuldirektor Buchhorn: „Wir müssen die Eltern quasi mit einschulen, die sich bei uns beklagen, wenn Unterricht durch Fortbildungen ausfällt.“ Neben der Diskussionsrunde hatten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des ersten Eichstätter Lehrertages anschließend Gelegenheit, um an zahlreichen fachdidaktischen Workshops teilzunehmen, die sich u.a. mit Individualität im Fremdsprachenunterricht, interkultureller Erziehung sowie Rechenprozessen bzw. –schwächen befassten.